Mittwoch, 17. April 2013

Komoedie I: Fegefeuer

Als ich realisierte, dass ich meinen Computer in deiner Wohnung vergessen hatte, du, die du für viele Tage ich weiß nicht wohin gefahren (geflogen?) warst und mir also klar wurde, dass ich bis zu deiner Rückkehr keinen Computer und kein Internet haben würde, fiel ich vor Dankbarkeit auf die Knie und begann, völlig entgegen meiner Natur und mit der größten Unmittelbarkeit zu weinen. Dass ich zum ersten mal seit dem Tod meiner Oma, der sich vor exakt (auf den Tag genau?) vor zwölf Jahren ereignete, geweint hatte, schien mir dabei weit weniger merkwürdig als der Umstand, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Dankbarkeit empfand, ein Gefühl, das bis zu diesem Zeitpunkt in der mir größtmöglichen Bedeutungslosigkeit verloren gegangen schien. Und von einer Sekunde auf die andere, in einem Augenblick also, füllte sich dieser leere Begriff mit der totalen Bedeutung und platze in mir, wie eine Ader im Gehirn. Heute stehe ich vor diesem Menschen, heute, da ich längst wieder in das Fegefeuer meines durch Computer und Internet geknechteten Alltags geworfen bin, stehe vor diesem sich niederknieenden, dankbaren, weinenden Menschen mit der größten Verwunderung, während es sich damals wie die größte Selbstverständlichkeit anfühlte. Ich bin bereits jetzt ein toter Mann, dessen einzige Freude, die zugleich meine schlimmste Qual ist, darin besteht, an jene von Kälte und Nässe gekennzeichneten Tage im Jänner 2013 zurückzudenken.

Komoedie II: Hansaring
Am Abend verlies ich dann wie ganz von allein das Haus, in der größten Selbstverständlichkeit sozusagen. Just in jenem Augenblick, in dem ich den Gehsteig betrat, warfen zwei oder drei Buben von der Dachterasse des Nachbarhauses Schnellbälle auf mich und doch war es mir, als hätte ich es geahnt. Ich bezog hinter einem Auto Stellung, einem VW Golf, was mir aufgefallen ist, obwohl ich sonst niemals ein Auto von einem anderen Auto unterscheiden kann und also niemals von einem Auto angefahren werden sollte, weil ich, unabhängig von meiner tiefsten seelischen Zerrüttung, die ich davon tragen und die mir den letzten Rest an Überlebenswillen rauben würde, keinerlei Angaben über das Fluchtfahrzeug machen könnte. Der nächste Schneeball war außerordentlich scharf geschossen und verfehlte mich tatsächlich nur um Centimeter. Ich zündete mir eine Zigarette an, und hielt sie in dieser totalen Finsternis mit ausgetreckter Hand über das Autodach, um so den Nachbarsbuben meine Kampfbereitschaft zu signalisieren. Wieder keimte größte Dankbarkeit in mir auf, das noch erleben zu dürfen. Zu meiner Enttäuschung zogen sich die Jungen, offenbar irritiert durch mein natürliches Verhalten, in die Elternwohnung zurück und ließen mich mit mir allein. Ich ging zum Hansaring und begann stundenlang durch die Seitengassen rund um den Hansaring und dem Eigelstein zu schlendern, allen voran die Turiner Gasse war es, die mich immer und immer wieder anzog. Diese Gegend ist ohne Zweifel die heruntergekommenste und von vom allgemeinen Gesindel am zahlreichsten bevölkerte Gegend Kölns, was mich aufgrund der Lage und der architektonischen Schönheit des Eigelsteinviertels in dieser ansonsten abstoßend hässlichen Stadt immer sehr verwundert hat. Ich kaufte mir eine Flasche Bier, ein Sion Kölsch, da ich, auch wenn mein ästhetisches Empfinden die vollendete Abgestumpftheit erreicht hat, Bier ausschließlich anhand der Flaschenform auswähle, da mir jedes Bier gleich und darüberhinaus natürlich keines gut schmekt. Vollständig erfüllt von der Widerlichkeit der mich umgebenden Menschen, empfand ich allerdings überhaupt keinerlei Veranlassung, auch nur einen Schluck Bier zu trinken und trug also meine Flasche vor mir her. Ich war mir sicher, dass dieser Abend nicht anders enden könnte, als dass mir jemand schlussendlich diese gefüllte Flasche, nachdem ich sie stundenlang herumgetragen hatte, mit der größten Wucht über den Schädel ziehen würde. Wenn ich auch nur einige wenige Tage länger ohne Computer leben würde, dachte ich, wäre ich in kürzester Zeit genauso wie die sich herumtreibenden Männer in den Seitengassen des Hansarings und es hätte den Anschein, dass ich Zeit meines Lebens immer nur in diesem Abschaum gelebt hätte und niemals unter anderen Menschen oder an anderen Orten. Mit der größten Selbstverständlichkeit würde ich alle Handgriffe so ausführen, wie die Männer vom Hansaring es tun und die selbe Sprache sprechen, die selbe Art sich zu bewegen, ihre Blicke und die meinen wären nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Erstmals in meinem Leben würde ich nur mehr als Teil einer Masse existieren und ganz und gar von dieser Masse geleitet und geführt werden. Das Kölner Gesindel, das ist mir schon am ersten Tag in dieser Stadt aufgefallen, lebt, so wie jedes Gesindel, sein Leben ausschließlich auf der Straße, wobei die Besonderheit in Köln darin besteht, dass sich der Abschaum nur im Winter auf den Straßen rumtreibt, während er im Sommer Zuhause bleibt und die Straße den mittelmäßigen Studierenden, die es auch in Köln in allzuhoher Zahl gibt, überlässt. Zu meiner völligen Überraschung (Enttäuschung?) wurde ich nicht mit meiner Flasche niedergeschlagen, wanderete stundenlang im Eigelsteinviertel herum, bis ich irgendwann plötzlich vor meiner Wohnung zu stehen kam. Ich ging hinein und schlief entgegen meiner Gewohnheit sofort ein. Die geöffnete, aber volle Flasche, in meinen betenden Händen. Ich weiß es nicht, aber es müssen mir Tränen über die Wangen gekullert sein.


Komoedie III: Life and Death
Life & Death
Es hätte auch anders sein können, aber am nächsten Tag wachte ich in der selben Stimmung auf, mit der ich am Vortag ins Bett ging. Oder doch nicht? Immer noch fühlte ich mich von der umfassensten Dankbarkeit erfüllt und tatsächlich war dieses Gefühl der Dankbarkeit noch heftiger als am ersten Tag. Die Dankbarkeit hatte mich vollständig ergriffen. Es führte kein Weg daran vorbei: Ich musste mich wieder niederknien. Aber nochmals hier in meiner Wohnung mich niederzuknien, das würde nicht ausreichen. Ich musste den Ort aufsuchen, der eigens zum Niederknien gebaut wurde. Ich hätte mich auch in einem Thronsaal niedergekniet, wußte aber nicht, wo ein solcher zu finden war.
Ich hätte mich auch an einem Sandstrand niedergekniet. An unserem Sandstrand. Sommerzeit und alles in Zeitlupe. Wir sind auf dieser Insel. Wir sind Gestrandete, Ausgestoßene, Gesindel. Wir haben die selben Bewegungen, den selben, immer gleichen Tagesablauf, die selben Erinnerungen. Wir lösen uns ineinander auf. Und dann sehe ich Dich, wie Du auf mich zu gehst, läufst. In Zeitlupe. Und in deinen Armen die Leiche eines geliebten Menschen. Er ist tot. Sie ist tot. Du kommst auf mich zu und ich falle auf die Knie. Du kommst auf mich zu und ich falle auf die Knie. Du kommst auf mich zu und ich falle auf die Knie.
Minuten später fand ich mich bereits in der Agneskirche wieder.

to be continued

leistung und vergnügen

Franz-Xaver Franz Drama-Queen

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