Dienstag, 29. November 2016

Die Selfie Falle

Singe die Verzweiflung, o Muse, des Exilanten Sachmann

Die Geschichte spielt zur Zeit der großen Duelle. Oder: Die großen Duelle spielen zur Zeit mit der Geschichte. Zuerst brachte die mit Spannung erwartete und mit Entsetzen aufgenommene Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten die ohnehin schon aus den Fugen geratene Weltlage zusätzlich ins Taumeln - und bereits einen Monat später sollte die zwar weit weniger bedeutsame und doch ebenso symbolträchtige Abstimmung über das höchste Amt im Staate Österreich folgen. Diese wurde unter einem ehemaligen Wirtschaftsprofessor der grünen Partei und einem schlagenden, aber leider nicht geschlagenen Mitglied der Burschenschaft Marko-Germania ausgefochten. Doch dem nicht genug! Als ob die Schicksalsgöttinen selbst (oder war es Ares?) die Finger im Spiel gehabt hätten, erlebte das zitternde Erdenrund just in diesen wenigen Wochen zwischen den beiden Wahlen auch noch die nervenaufreibende Austragung der Schachweltmeisterschaft - zwischen dem norwegischen Titelverteidiger Magnus Carlsen, dessen latente Sozialphopie die knuddelige Attraktivität des Weltmeisters nicht schmälerte, und seinem Herausforderer Sergei Karjakin, der sich als Krimm-Bewohner immer schon als Russe gefühlt hatte, weshalb sein Verbandswechsel vom ukrainischen ins russische Lager nur wenig verwunderlich war und die Annäherung ans Totalitäre in diesen Zeiten ohnehin im Trend lag.

Der im Hamburger Ortsteil Schlump ansässige und aufsässige österreichische Exilant Ingobert Sachmann, aus seinem alpinen Geburtsland längst ausgewandert, war durch den Allgemeinzustand im Allgemeinen und den Sonderfall im Besonderen der größten Verzweiflung Opfer geworden. Der Sonderfall war ein Kniefall: Seit Monaten hielt der menschenfreundliche und wachsame Sachmann, Sohn der Jenaer Frühromantik und der Frankfurter Schule, Fan von Tina Turner und Freddie Mercury gleichermaßen, Anhänger des FC St. Pauli und Langzeitabonnent der Zeitschrift Die Apotheken Umschau, dem grünen Kandidaten zur Wahl des österr. Bundespräsidenten die Stange.
Alles hatte er über sich ergehen lassen: Die Flut rot-weiß-roter Fahnen auf allen erdenklichen Wahlplakaten, die häufigen Auftritte des grünen Wirtschaftsprofessors in Trachtengewand, etwa beim Kirtag in Altaussee (in Altausee!), den Slogan "Österreich dienen", die anschlussfähigen Fotografien von Spaziergängen im heimischen Wald mit Hund, die eifrig betriebene Rehabilitation des Begriffes Heimat, die motivierten Jungwähler, die mit Plakaten, Fahnen und Sprechchören jeden TV-Auftritt des Professors amerikanisch begleiteten; kurzum: Jeden Zungenkuss mit dem Status Quo hat Sachmann diesem seinem Kandidaten angesichts der drohenden, noch größeren Katastrophe, dem rechtsextremen Gegenkandidaten, verziehen.
Dass, wer den Grünen wählt, ebenfalls rechts wählt, sah der in Ästhetik geschulte Sachmann schon als ein unausweichliches Schicksal und als eine Prüfung der Götter an, die zu Bestehen er sich gerüstet glaubte. Doch weitere Tiefschläge folgten, die Prüfungen wurden herkulesker. Eine Selfie-App raubte Sachmann den Atem und beinahe den Verstand. Immer und überall, drohte die App auf der Website seines Kandidaten, könne man nun ein Selfie machen mit dem Professor, könne sich hineinprojizieren in die virtuelle Realität und sich anschmiegen an den für jedermann verfügbaren sich Fügenden. "Sie können aus sechs verschiedenen Motiven des Präsidentschaftskandidaten wählen: staatsmännisch, hemdsärmelig, beim Wandern oder im Tiroler Kaunertal." Sachmann zitterte. Das Gefühl einer tiefen Beleidigung seiner Intelligenz gab dem Enttäuschten paradox Selbstwert. Er nahm es persönlich. Noch ist nicht alles abgestorben in mir, dachte Sachmann und wankte.
Auf die Füße kam er nicht mehr. Weil: Die Selfie-App noch im Nacken, knüpften die Kommunikationsstrategen in der Wiener Wahlkampfzentrale Sachmann bereits einen weiteren gordischen Knoten in den Weg. Ein Video war es, das Sachmann schließlich zu Fall brachte. Umfallen, liegen bleiben.
Das Video: Ein Streifzug durch die heimatliche Heimat. Strahlende Gesichter. Gezeigt werden Erntehelfer, die keine sind. Dann Kühe, Berge, Würstelstand. Chöre und Musikkapellen. Kinder. Dazwischen der Professor unter Hunden und Volk. Musikalisch untermauert mit der sogenannten heimlichen Hymmne "I am from Austria". Dieses Lied kann seit seinem Bestehen keiner Vereinnahmung trotzen, was nicht an den nationalistischen Krallen der Vereinnahmer liegt, sondern am mangelnden Immunsystem des flachen Schlagers selbst. Dazu eingeblendet die Textzeile: "Sie haben es in der Hand zu entscheiden in welche Richtung unsere Heimat geht." Ha! dachte Sachmann. Welch Hohn. Die Würfel sind längst gefallen. Die Wahl ist keine mehr. Er entschloss sich, seine bereits ausgefüllte Wahlkarte nicht abzuschicken und machte sich wie jeden Montag auf zum Schach mit Agnes Minks.
Sie spielten seit Jahren miteinander und beide gleich gut, nämlich mäßig. Man war sich sympathisch. Die Bindungen sind tief, wo auch die Erwartungen es sind.

- Frau Minks! rief Sachmann. Ich kann nicht mehr! Wohl fühlt er sich in einer Lederhose, hat der Wirtschaftsprofessor gesagt. Dass es ihm gar nicht schwer fällt Tracht zu tragen, hat er gesagt! Weil er aus dem Dorf kommt. Ich komme auch aus dem Dorf und seien Sie versichert: Mir fällt es schwer.
- Es steht jedem frei eine Tracht zu tragen, aber auch jedem frei eine Tracht nicht zu tragen. Wenn aber das Nichttragen schon der Rechtfertigung bedarf, dem vorauseilenden Gehorsam, ist das Marschgetrommel nicht mehr weit - pflichtete ihm Minks bei. Das beflügelte Sachmann.
- Der Zweck heiligt die Mittel, denken die Wahlkampfstrategen, diese Sirenen der Einheit. Welch fataler Irrtum! Sie glauben sich so gut und richtig, dass es nichts gibt, was sie falsch machen könnten. Es gibt kein falsches Leben im richtigen denken sie und denken verkehrt.
- Dass es für den, der auf die Sirenen hört kein Zurück mehr gibt, sei ein Übersetzungsfehler, sagen manche. Lassen Sie die Hoffnung nicht fahren Sachmann!
- Die Segel sind gehisst, aber der Wind bleibt aus. Nichts das mich antreibt. Auch meine Fallschirme sind verbraucht. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. - klagte Sachmann und sank erschöpft auf seinen Stuhl.
Sachmann zog die weißen Steine, Spanische Eröffnung. Minks antwortete nicht wie gewohnt mit der geschlossenen Verteidigung, sondern mit der offenen. Springer auf e4.

- Sachmann fuhr fort: Nun scheint jedes Mittel rechts. Die Selbstzensur ist die größte, obwohl das offen zur Schau gestellte Kettenrauchen des Wirtschaftsprofessors doch ein Schritt in die dem Zeigeist entgegengesetzte Richtung wäre. Warum dieser Spur nicht folgen? Die unehelichen Kinder auf dem Dorfe haben heute bessere Karten als ein linkes Gedankengut, das zum Schandmal erklärt wird. Ab in den Keller zu den anderen Leichen! Typisch österreichisch! - empörte sich Sachmann.
Sie tauschten Läufer ab und Sachmann war am Damenflügel angeschlagen. Er brachte seinen Springer am gegnerischen Königsflügel trotzig in Stellung.
- Jetzt wird der Ausnahmezustand ausgerufen, wo doch der Weltenterror täglich waltet. Immer noch verhungern etliche stündlich. Wer davon spricht wird heimlich ausgelacht. Ein alter Hut, sagen die Konformisten und belächeln den, der zwar vielleicht ein Herz hat, aber kein Hirn mehr, das ihnen Vernunft scheint. Lieber über Rassismus reden, als über den selbst produzierten täglichen Beitrag zum Genozid. Ups, dieses Wort! Entschuldigung. Die Wortwahl ist schlimmer als die Unerträglichkeit des Bezeichneten, nicht wahr? Verhängnisvoller ist es Neger zu sagen, als einen umzubringen! - Sachmann verlor die Fassung.
Er starrte auf das Schachbrett in drohender Ermattung. Minks wollte seine Hand nehmen, ließ jedoch davon ab. Sie setzte ihn mit Turm c6 unter Druck und sagte sachte und zugleich bestimmt:
- Sachmann! Ich bitte Sie! Ihre Verzweiflung ist berechtigt, ebenso Ihre Wut. Aber Ihr Scharfsinn leidet. Vergessen Sie nicht: Wer denkt, ist nicht wütend. Und Sie wissen, von wem dieses Zitat stammt. Bewahren Sie also Haltung!
Sachmann spielte nach einer sehr langen Pause einen unbedeutenden Zug mit einem Bauern, der sein Stellungsspiel nicht stärkte. Dann fuhr er fort.
- Diese fitten Konformisten sind es, die sich jetzt, angesichts des größeren Übels, alles erlauben können. Endlich können sie ihr biederes Ja zur Welt, ihr aus dem Weg schaffen aller Widersprüche voll ausleben - und wer nicht mitmacht, wer nicht einstimmt in den Chor, wo scheinbar jede Stimme zählt, wird als Mitschuldiger verurteilt. Wer nicht wählt muss schweigen, hat sein Bürgerrecht verwirkt, drohen die Überzeugten. Ich kenne diese Leute. Geistesfeinde sind sie. Umarmer. Designer. Steigbügelhalter für weitaus Schlimmeres! Was heute salonfähig gemacht wird um den Burschenschafter zu verhindern, wird morgen weit übleres ermöglichen.
Sachmann hob die Tarnung auf. Ein Damenopfer hätte ihm Raum verschafft, er schlug aus. Heute nicht, dachte er.

- Was Sie sagen Sachmann ist genau so wahr wie falsch. Das zumindest sei Ihnen zugestanden. Doch wenn schon die Mundtotmacher der guten Sache keinen Widerspruch dulden, tuen Sie es! Judith Butler hat gesagt, man soll Clinton wählen, aber am nächsten Tag gegen sie protestieren. Das nennt man in Widersprüchen denken, Sachmann! Haben Sie das verlernt? Das Nichtverstehen darf genauso wenig Kapitulation sein, wie das bedingungslose Nein. Negative Dialektik!
Dagegen konnte Sachmann nichts einwenden.
- Das bin ich geworden? Zu dumm zum Nicht-Verstehen? - fragte er mehr sich selbst als sein Gegenüber, während er mit Springer auf g2 trabte.
- Nicht zu dumm, nur zu müde - sagte Agnes, und hätte Ingobert hinzugefügt, wenn sie denn per Du gewesen wären.

Sachmann konterte: Als Homosexuelle sich die Diffamierung "Queer" angeeignet haben, war das eine Ermächtigung. Als sich der grüne Professor den Begriff Heimat angeeignet hat, war das ratlose Selbstaufgabe. Die Umdeutung blieb aus.
- Das wäre allerdings die für den Professor charmante Interpretation. Vielleicht schlummert ja tatsächlich die Sehnsucht nach Echtheit, Stolz und Vaterland in ihm. Das sich fallen lassen ist auch Ihr Wunsch.
- Was spielts für eine Rolle? Das Amt ist symbolisch, und die Symbole sind eindeutig. Meine Angst ist eine andere: Werden die Vokabeln, die jetzt in die Mitte rücken, jemals wieder in Frage gestellt werden? Wer nicht in zügiger Gewinnmaximierung sondern historisch denkt, muss sich doch fragen: Was sind 4 Jahre Schreckensherrschaft im Vergleich zu einer ganzen Generation, die der Alternativlosigkeit ausgeliefert wird? Die Geister die man ruft, Minks!
- Schon wieder sind Sie kulturpessimistisch Sachmann!
- Dabei bin ich doch für den Fortschritt! Nicht alle, die sich in der Vergangenheit warnend zu Wort gemeldet haben, hatten unrecht.
- Aber alle, die gesagt haben, dass jetzt die Welt untergeht schon.
- Nein. Die hatten alle recht.
- Ach Sachmann. Wählen Sie, der Sie leicht reden haben. Sie haben keine Repressalien zu befürchten, keine Abschiebung, niemand wird aus rächender Euphorie ihr Heim anzünden. Check your privilege! Tappen nicht auch Sie in die Selfie-Falle. Tun Sie es für die Anderen.
- Die Anderen? Ach Frau Minks. Ich möchte auch wieder fröhlich sein, lustig. Mich auf der richtigen Seite wähnen.
- Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh, nicht wahr?
- Sagt man. Aber ich dachte immer in der Ferne lacht es sich leichter. Doch die Wahrheit ist: nur leiser.
- Wählen Sie Sachmann! Sie werden es sich nicht verzeihen, aber die Geschichte schon.
- Nicht die meine. - sagte Sachmann und bot Remis an. Minks lehnte mürrisch ab und Sachmann gab nach drei Zügen auf.

In der Nacht wurde er von unruhigen Träumen geplagt. Die Bauern rücken im Gleichschritt vor. Stiefel auf Beton. Die Springer scheuen, die Läufer tanzen, die Türme brennen. Alles vermischt sich zu Gebrüll. Er wird überrannt. Das Damenopfer, reute es Sachmann im Schlaf, das Damenopfer! Hätte ich doch, hätte ich doch! Er erwachte, stand auf, nahm am Schreibtisch Platz und besah erneut das ausgefüllte Wahlkuvert. Er überlegte hin und her, legte es beiseite und schlief erneut ein.

leistung und vergnügen

Franz-Xaver Franz Drama-Queen

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