Kein schöner Leben

Um Schlag Mitternacht, wie es der Zufall so wollte, und dank S., entdeckte ich diesen meinen alten Text wieder, heute, am 8. Dezember. (geschrieben wohl 2007/2008)


Ein Einkaufszentrum dekoriert mit Weihnachtsschmuck. Vornehmlich Frauen mittleren bzw. rasch fortschreitenden Alters verteilen sich Kaffe trinkend oder durch Schaufenster blickend im Raum. Die Kaffee trinkenden Frauen sitzen auf Gartenstühlen der in den Gängen freistehenden Cafes samt Sonnenschirm. Manche besitzen zugehörige Kinder oder einen hörigen Hund. Weihnachtsdekoration glitzert von oben. Es scheinen golden Sterne, am Schaufenster steht einsam
Sie (auf die Preise blickend): Ach wer da mitbieten könnte!
Eine andere: Aber auch ihr Dekorationswert macht sie daseinsberechtigt, vorausgesetzt sie stellen sich und aber auch anderen aus. Achten sie dabei bloß auf ihre Haltung, da man gerade hier die Trübsinnigkeit ungern aushält. Durch unsere spitzen Klimaanlage halten wir schon genug Menschen aus, die im Grunde nichts Nennenswertes zu unserer Ausbreitung beitragen, sondern sich hier, anstatt in ihren Heimen, ihre Zeit totschlagen lassen. Hier bist du Mensch, solange du hier einkaufst. Das Einkaufszentrum bietet dank den Friseursalons und Kinderstätten ein ausgeglichenes Ganztagsprogramm für kurzfristig Unentschlossene oder Langzeitarbeitslose. Gerade zur Vorweihnachtszeit sind unsere Kunden dankbar um einen Zeit und Geld vertreibenden Ort wie diesen. Oh, aber da kommt ja unser Herr Hausverstand, bekannt aus Funk und Fernsehen!
Der Hausverstand: Liebe Österreicherinnen, liebe Österreicher! Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen glauben, immer schneller leben zu müssen – egal, ob Tag oder Nacht, uninteressant, ob Wochentag, Feiertag oder Sonntag. Mag sein, dass unsere moderne Gesellschaft diese Entwicklung verlangt. Könnte es aber auch sein, dass wir in unserem Beschleunigungs-Wahn übersehen, wie viel uns durch diesen Mangel an Ruhe und Zeit verloren geht?
Eine alte Frau: Wie froh bin ich, dass gerade hier, im Herz der Alpen, das Altenheim mitten in dieses schöne Industriegebiet gepflanzt wurde. Als mich meine Kinder hier abgeliefert haben, konnte ich mein Glück nicht begreifen und begreife heute noch nichts. Hier gibt es so viel zu sehen, und lachend läuft das Leben in Form junger Menschen an mir vorbei. Nur wenige Minuten brauche ich von meinem Heim in das helle Neonlicht, und bevor ich endgültig darin eingehe, bin ich froh um jede Minute Auslauf die man mir hierher erlaubt.
Irgendwer, vielleicht ein Mann: Schrecklich das mit dem kleinen Kellermädchen, das da so viele Jahre eingeschlossen wurde. Wenn die da oben doch nur auf das Herrerl des deutschen Schäferhunds gehört hätten, wär’s gar nicht erst so weit gekommen. Solchen Hinweisen ist nachdrücklich nachzugehen! Da hätte sich unsere Presse einen Haufen Arbeit und Geld durch die Finger gehen lassen können. Anweisungen deutscher Schäferhunde ist prinzipiell Folge zu leisten! – aber was sehe ich da. 19,90 für diesen überaus attraktiven Wäscheständer.
Eine Frau: Ich möchte nur eines wissen, wurde das Mädchen nun oder wurde es nicht von diesem Mann, sie wissen schon was ich meine. Immerhin hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf.
Ein Mann: Da bin ich ganz sicher, auch wenn die Kleine das bis heute nicht zugeben will! Zu so einer Entführung gibt’s diese Einführung ja meistens kostenlos dazu. Eins plus eins gratis. Hübsch genug wäre sie ja!
Eine Frau: Man muss die Kleinen eben auf das Leben draußen vorbereiten. Früher oder später werden wir das schon noch erfahren, Dank dieses einfühlsamen Fernseh-Reporters.
Der Hausverstand: Die Kunst des Ruhens ist ein wichtiger Teil der Kunst des Lebens.Wir sind der festen Überzeugung, dass wir alle verlässliche Ruhepausen brauchen, in denen wir uns zurücklehnen, besinnen, nachdenken und neue Kraft holen können. Die besten Ruhepausen sind jene, an denen möglichst viele aus dem eigenen Freundes- und Familienkreis auch Zeit für gemeinsame Aktivitäten haben. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, heuer am 8. Dezember unsere Filialen nicht aufzusperren und unseren Mitarbeiter/innen diesen Tag zur ihrer freien Verfügung zu stellen.
Eine Mitarbeiterin: Danke, oh Herr. Wenn sie gestatten muss ich nur noch meinen Mann um Erlaubnis bitten. Immerhin kann eine so wichtige Entscheidung nicht allein über mich gefällt werden.
Eine Kollegin: Dieser Herr ist mein Hirter, mir wird an nichts mangeln! Hier wird rundum für mich gesorgt. Ich kann meine Kinder am Eingangsbereich abgeben und meiner Arbeit hinterher gehen. Die Waren lachen mich den ganzen Tag freudig an, dass ich es kaum erwarten kann, zuhause von ihnen versorgt zu werden, auch wenn die Versorgung mir allein anheim fällt und mich völlig ausfüllt, so dass nur wenig Zeit bleibt mich anderweitiger Arbeit zu widmen. Ich danke Gott für den freien Tag den er mir am 8. Dezember geschenkt hat, damit ich Allfälliges Anstehendes ordnungsgemäß erledigen kann unter den wachen Augen meines Fürsprechers.
Dieselbe oder die andere: Der Hausverstand sagt, man sollte immer wissen wenn es zuviel ist. Ich danke meinem Arbeitgeber, dass er mich nun auch außerhalb meiner Arbeit an der Hand führt und mich in allen Lebenslagen berät. Ernährung und Gesundheit stehen ganz oben auf seinem Einkaufszettel den ich zwar nicht lesen, jedoch bezahlen kann. Er steht hinter mir und flüstert mir eine praktisch zu handhabende Gebrauchsanweisung ins Ohr. Vielleicht kann ich einmal meine Kinder hier im Geschäft in die Schule schicken! Das wäre schön hat man mir gesagt, weil meine Kinder dadurch alles bekommen was sie zum Leben brauchen: Vitamine, Ballaststoffe und Spiel, Spaß und Spannung. Sie werden dann während der Arbeit nicht an Dinge denken, weil sie diese gar nicht kennen und niemals kennen lernen werden. Gerade so viel wie der Mensch zum arbeiten braucht, man sollte immer wissen, wenn es zuviel ist!
Frauen im Chor: Danke für diesen freien Tag! Danke für meine Arbeitstelle, danke für meinen Hausverstand, danke dass deine Hand mich leiten will an jedem Ort.
Eine Verkäuferin: Die Stecken? Die finden sie drüben bei den Stäben und Stangen. Aber achten Sie gefälligst auf die Marke! Man kann heute nicht vorsichtig genug sein. Ich freue mich, dass unsere Fleischproduktion von den freundlichen Männern der AMA, was immer das auch heißen mag, gut überwacht wird. Das ist mir viel lieber als ausländisches Fleisch, das ja ohnehin schon zu genüge zur uns dringt. Das liegt einem dann unnötig schwer im Magen, wo man doch ganz andere Dinge zu erledigen hätte. So aber muss man die als erstes erledigen. Nutzen sie auch unsere vielen 1 Euro Angebote, aber nur so lange der Vorrat reicht.
Eine mittelständische Ehefrau: Ich möchte mich nun völlig und ohne Kompromisse dem freien Warenverkehr öffnen, damit er ganz und gar in mich dringen kann. Ich will ab sofort meinen ganzen Körper verinnerlicht wissen, möchte mich meinem Ernährer und Versorger mit Haut und Haar ausliefern um mein Leben in eine geordnete Bahn leiten zu lassen. In all meinen Belangen will ich die totale Beratung! In jeder Beziehung zählen die Menschen! Meine Bank will ich so nah wie möglich, damit sie mich in allen Lebenslagen beraten kann. Eine gute Bank ist zwar ganz nah, nur aber die beste ist immer an meiner Seite. Einfach näher am Menschen! Ganz in mir drinnen will ich die Bank samt Berater stecken haben. Alles Kapital soll dabei in mich und durch mich fließen. Durch und durch gewinne ich an Profil. Meine Individualität wird mir aus der Masse herausgestochen. Alles wird persönlich an mich gerichtet werden, die Werbung flattert dann nur noch passend ins Haus. In letzter Not als Rettungsanker, weil ich dann nur mehr das angeboten bekommen werde, was ich wirklich brauche. All meine Bedürfnisse werden sorgsam gespeichert um endlich die Qual der Wahl von mir zu nehmen. Einfach schöner leben!
Zwei Männer kommen auf die Frau zu. Einer trägt einen hellen Rollkragenpullover, darüber ein Sakko, der andere Mann ist in blauem Anzug mit roter Krawatte. Die Frau sinkt auf die Knie. Sie reißt sich alles vom Leib, schreiend. Die Männer nehmen die glückliche Frau in die Mitte, einer von vorn und einer von hinten und gehen ab.

P.S.: Der Autor wurde bei diesem Text von einer österreichischen Nobelpreisträgerin inspiriert, sagt aber nicht von welcher. Raten Sie! Keine Preise zu gewinnen.

leistung und vergnügen

Franz-Xaver Franz Drama-Queen

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