Mittwoch, 9. Juli 2014

Be Who You Are - Außergewöhnlich ist jeder von selbst. Oder: Zur psychologischen Voraussetzung guter Kunst


Wenn einer ein guter Schriftsteller ist, schreibt er eh das, was notwenig ist, für ihn und für andere auch, da braucht er gar nicht viel nachdenken. Da 99% der Schriftsteller ständig nachdenken, wie sie die Welt verbesern sollen und wie sie sich einschmeicheln sollen bei den sogenannten Lesern, schreiben sie alle schlechte Bücher, die keinen Menschen interessieren.
Außergewöhnlich ist ja jeder von selber. Wenn er aber anfängt nachdenken warum, ist ers schon nicht mehr und verliert alles.

Thomas Bernhard

Auch wenn wir längst beschlossen und eingesehen haben und also begiffen haben, dass es sich bei Thomas Bernhard um den größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts handelt, neben all den anderen größten Schriftstellerinnen und Schriftstellern des zwanzigsten Jahrunderts, die wir überhöhen müssen, um nicht von ihnen erdrückt zu werden, überrascht es doch immer wieder, wie unvermittelt die wärmsten Funken des sprühendsten Humanismus aus dem hl. Thomas herausgeschossen sind, und welch umfassendes Menschenverständnis er hatte und also welch umfassende Menschenliebe er hatte, denn die einzig wahre Menschenliebe ist das Menschenverständnis, es allein kann zu Subjektwerdung meines Gegenübers führen, denn das, was ich nicht verstehe, bleibt für mich abstakt wie eine mathematische Formel, die Atombombe, oder der Ehering an meiner wundgewixten Hand.
Das oben angeführte Zitat, kein Textauszug, sondern die Transkription eines Interviews (Die Ursache bin ich selbst, Krista Fleischmann), zwei Jahre vor seinem Tod, zeigt Bernhard merhrfach, beinahe umfassend. Die ganze Literatur erklärt in einem Satz, aber das ist eh klar, das kennt man ja von Bernhard. Jedoch den Autor, den Künstler, als ein autonomes weil individuelles und lediglich aus sich selbst heraus schaffendes Wesen zu postulieren, und das, ohne irgendeinen naiven Geniekult zu kopieren und ohne ins Fahrwasser von Nietzsches Übermensch-Tralala zu geraten - das überrascht doch einigermaßen, einiger einiger maßen!
"Außergewöhnlich ist jeder von selber. Wenn er aber anfängt nachdenken warum, ist ers schon nicht mehr und verliert alles." Was Bernhrad da sagt, könnte in anderen Worten beinahe auch in der Brigitte stehen oder in einem LadyGagaSong: Sei ganz du selbst, dann wirst du es schaffen. Aber während LadyGaga nichts anderes tut, als sich außergewöhnlich zu machen, und somit in der gähnensten Gewöhnlichkeit untergeht, nicht ohne aber dieses Sich-außergewöhnlich-Machen als zwar unmögliches, aber dröhnendes und allgegenwärtiges Diktum zu reflektieren und also ihr eigenes Scheitern zu besingen und Tag für Tag aufs Neue ihre Selbstabschaffung zu vollziehen, um mühsam aufgerichtet Tags darauf wieder in sich zusammenzufallen, was allerdings - und hier dulde ich keinen Widerspruch - kaum einer ihrer kreischenden Fans versteht, sondern was nur ein Fressen für die ausgehungerten Popintellektuellen darstellt, die sich auf LadyGaga stürtzen, geradezu verzweifelt, weil sie einen neuen Warhol heraufbeschwören wollen, weil sie sich so daumendrückend nach Versöhnung mit dem Status Quo und also mit dem Kapitalismus sehnen, und damit genauso wie die GagaFans an der Balkanpopydra zu Grunde gehen, sind die Bernhardianer von vornherein schon so verkommen und hoffnungslos und an der Totalität und nicht der Komplexität interessiert, dass diesen Schmalspurfaschos nichts mehr zu nehmen und kaputt zu machen ist, weder, indem man ihnen Individualität zu- noch abspricht. Es ist kein Versprechen, das Bernhard da gibt, sondern eine Feststellung und gleichzeitig ein Befehl, während Gaga jedoch verspricht und lockt. Macht aber nix. Und klar: Ein BernhardRoman kann ebenso Gottesdienst sein, wie ein Gagakonzert, Gläubige wie Sand am Meer, ich bin einer davon. Nur schrieb Bernhard die beste Literatur, während Gaga die mäßigste Musik produziert, bzw produzieren lässt, mit ein paar Ausreissern nach oben, ein paar rechtmäßigen Tophits - aber eben vor allem mit viel Mittelmaß. Weit tragischer verlief jedoch Gagas Versuch, sich mit dem Album Artpop in irgendeinen mainstreamavantgardistischen Kunst-Kanon einzureihen. Die Auswahl der Künstler, die bei Artpop beteiligt sind, wirkt in etwa so sexy, wie die Gruppe 47 um Grass und co. Mit der längst in weit weit entfernte Gefilde hinweggeschwebten Zauberfee Marina Abramovic zu arbeiten, ist genauso dümmlich-reaktionär wie mit Bill Gates, der für das Cover von Artpop verantwortlich zeichnet. However.
Dieses Bernhardsche Warnung - denk ja nicht nach warum - das ist ja auch interessant. Wie in der Mythologie, wo man sich, wie zb. Orpheus, nicht umdrehen darf, weil man sonst alles verliert, geht Bernhard davon aus, dass der Mensch seine Außergewöhnlichkeit verliert, wenn er versucht herauszufinden warum er außergewöhnlich ist und also versucht, diese Außergewöhnlichkeit herzustellen. Bewußtmachung heißt Verlust, das ist ja auch psychoanalytisch, was Bernhard da sagt, es ist wie das Kind, das im Moment seiner eigenen Bewußtwerdung aus der Einheit mit der Mutter gerissen wird und, wenn man dem Lacanschen Wirrwarr folgt, ins Gesetz des Vaters übergeht, was gleichermaßen das Gesetz der Sprache bedeutet.
Ergeht es dem Künstler ebenso? Wird der außergwöhnliche Autor gewöhnlich durch seine Selbstreflexion - und fragt er deshalb nach dem Leser, nach dem Spiegel, nach dem Weltverbesserungspotential seiner Texte (und also nach einer Rechtfertigung)? Führt mein individuelles, psychologisches Versagen in die Zerstörung meines künstlerischen Schaffens? Zerstört jede Überlegung, wie ich ein Kunstwerk machen muss, damit es gefällt, oder, wie man so sagt, funktioniert, dieses Kunstwerk? Ich glaube hier ist der entscheidende Punkt: Ob einer in der Lage ist gute Kunst zu machen (gut ist hier definiert ganz einfach als das, was ich, franz-xaver, gut finde), hängt neben seinem Talent genauso von seinem Vermögen ab, er selbst sein zu können bzw. er selbst zu sein. Ich führe mit verschiedenen Bekannten in regelmäsigen Abständen Debatten über das, was man macht und machen will. Mein Diktum, dass man auf alles rezeptionsorientierte scheißen muss und dass man, soweit als möglich, auf nichts Rücksicht nehmen darf, dass man nicht bei berechnenden Lektoren und Produzenten um Ratschlag bittet, bei neidisch-fröstelnden Kollegen Tipps sucht, dass man keine Sekunde überlegt, was das Kunstwerk auslösen könnte bei diesem oder jenem, dass man keine Sekunde daran denkt, was es bereits an ähnlichen Kunstwerken gibt, oder daran denkt, was die Kollegen gerade so machen, und dass man keine Sekunde vor sich hin zaudert weil man daran denkt, was zum Beispiel passiert, wenn ich beginne Pornos zu drehen oder Landschaftsmalerei zu malen, was das aus meiner Reputation macht - etc etc etc. Wie ein wilder Stier kämpfe ich dagegen an, wenn ich sehe, wie schnell in den Köpfen manch meiner Kunstfreunde strategisches Denken aufkeimt, ich wittere Verrat und Anpassung. Ich wittere Ehrgeiz und Erfolgswillen - zwei ganz üble Voraussetzungen um Kunst zu machen.
Aber wie lange hat es gedauert, bis ich begriffen habe, dass es sich dabei nicht um eine künstlerische Debatte handelt! Nein, es handelt sich um eine ganz persönliche Debatte, um eine psychologische Debatte! Die Frage ist immer die, ob man ausreichend Selbsvertrauen hat, ob man ausreichend Selbstliebe im Stande ist aufzubringen, um sich diese Liebe selbst geben zu können, um sich selbst den nötigen Zuspruch zu geben, und also nicht angewiesen zu sein auf Lektor, Kunde oder Käufer - ja, das ist fuckingverdammt schwer. Ich spreche mit den Menschen und sie raten mir ab, weil dieses oder jenes so oder so verstanden bzw missverstanden werden könnte. Weil dieses oder jenes nicht gut genug sei, nicht durchdacht genug oder was weiß ich. Dass dieses oder jenes nun aber genau dieses oder jenes ist, das zu produzieren ich jetzt in dem Moment beschlossen und auszuführen habe, womit sich jede Diskussion erübrigt, da ich niemals eine Rechtfertigung schuldig bin, das leuchtet nur dem ein, der in der Lage ist, mit der aufreibenden Ungewissheit in Bezug auf den künstlerischen (und ökonomischen) Erfolg zu leben. Jemand also, der sich nicht über Anerkennung definiert. Der sich das gar nicht holen muss, oder anders holen kann. Weil ihm das Erklimmen eines Berges, der Blick in den Spiegel, das Lachen seiner Kinder oder ein erfülltes Sexualleben schon genung geben. (Btw: Die ökonomischen Bedingungen sind hier frelich ein weiterer entscheidender Punkt. Aber auch hier gilt ähnliches. Wer es mit seinem Selbstverständnis, bzw mit seinem Selbstwert vereinbaren kann, nebenbei als Kellner oder H&M Verkäufer zu arbeiten, tut seiner Kunst keinen Schaden an - nur den, dass man zeitlich eingeschränkt ist. Aber klar: eine rießen Scheiße ist das mit dem Geld schon, und ein bedingungsloses Grundeinkommen würde vieles von dem, über was ich hier zu jammern habe, schnell zum Guten wenden.)
Kunst verkommt in den Händen von 99% der Künstler, wie der hl. Thomas feststellt, zu diplomatischer Strategie, ist überflüssig und langweilig. Kunst ist kein Ausdruck mehr, sie fragt nach dem Warum, und schafft sich damit selbst ab, Kunst hört auf Kunst zu sein. Aber was ist sie dann? Was ist Kunst für die 99% der Künstler? Sie ist Arbeit.
Nicht umsonst sagen die Kunstmenschen immerzu Arbeit zu ihrer Kunst, und zwar nicht nur zu dem Vorgang, Kunst zu machen, sondern absurderweise zum dem fertigen Kunstwerk selbst. Als ob es verpönt sei, in der Herrschaft des Kapitalismus Kunst als Kunst zu bezeichnen. Nein, Arbeit muss es sein. So als ob man sich rechtfertigen müsse: Kunst ist auch Arbeit! Ich sage: Quatsch! Kunst ist Kunst und Arbeit ist Arbeit! Immer fragt man sich, ob man diese und jene Arbeit schon gesehen hat, wie man denn diese oder jene Arbeit von diesem oder jenem findet ("also das ist ja eine spannende Arbeit"). Und genau so schauen diese Kunstwerke, ob Filme, Videokunst, Fotografie, Literatur oder Pornographie dann auch aus: nach Arbeit. Nach Produktion. Nach Nutzen und Verwertbarkeit. Und an allem klebt der ätzende Geruch der Angst. Der Schweiß, der an diesen Kunstwerken klebt, ist nicht der Schweiß eines Betonmischers oder einer Biergartenkellnerin, es ist nicht der Schweiß der harten Arbeit, sondern es ist der pure Angstschweiß. Und die Galeristen, die Kollegen, die Professoren und die Journalisten, sie alle sehen sich diese Kunstwerke an, doch weil sie selbst die Hosen gestrichen voll haben, überdeckt ihr Eigengeruch den Angstschweiß der anderen. Eine Vernissage ist somit nichts anderes als eine Abortsauna am Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Arbeit ist Arbeit und Arbeit ist Geld und Kunst ist Kunst und Kunst ist Therapie und Außergewöhnlich ist Außergewöhnlich und Ich bin Ich und Du bist Du. Nur, wer sich als einzigartig, besonders, unersetzlich und also als außergewöhnlich begreift, nur wer sich nichts beweisen muss, nur wer die Leserschaft genauso wenig beachtet, wie das Schaffen seiner Kollegen, nur derjenige wird, wie Bernhard sagt, nicht alles verlieren. Und genau dadurch kann er alles aufs Spiel setzen.

außergewöhnlich ist jeder von selbst (ab 06:05)


be who you are
Lebensmensch - 2014-07-13 15:29

übrigens habe ich mit mauszfabrick telefoniert, der mir in größter aufregung berichtet hat, dass er leider sommerpause hat und deswegen diesen text nicht kommentieren darf, er aber mit allem einverstanden sei, begeistert sei sogar, vor allem was die ladygagapassagen und die geniekultpassagen angehe, vor allem da, so mauszfabrick, sei er geradezu "erschüttert von soviel weitsicht" wie mauszfabrick sagte und dass es zwar sein weltbild auf den kopf stelle, sagte er, aber "gottseidank", sagte er und sagte auch noch irgendetwas von "erleuchtung", was ich aber nur mehr halb gehört habe, weil das spiel ja gleich anfängt.

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